Die Psychologie der Anleger
Rationale und effiziente Anlageentscheidungen bilden einen Idealzustand, der in der Realität nur selten eingelöst wird. Dennoch hält sich bis heute die These des Homo oeconomicus, der seinen Nutzen maximiert – trotz nachgewiesener Selbstüberschätzung, mangelnder Information oder emotionaler Abhängigkeiten. Das interdisziplinäre Fachgebiet Behavioral Finance untersucht diese Mechanismen und bietet Finanzintermediären wie Privatpersonen interessante Lösungsansätze für nachhaltige Anlageentscheidungen.
Bereits seit mehr als 100 Jahren wird der Begriff des Homo oeconomicus verwendet und als grundlegendes Modell für Finanzentscheidungen herangezogen. Die Idee dahinter ist einfach: Jeder Mensch verhält sich in finanziellen Entscheidungen so, dass er den grösstmöglichen Nutzen erreichen kann. Zudem agiert er rein rational, ist also nutzengetrieben und emotionslos und lässt sich auch nicht von Informationen beeinflussen, die nicht entscheidungsrelevant sind.
Als kleinste wirtschaftliche Einheit steht zwar der Mensch im Mittelpunkt dieses Modells, doch lässt sich sein Rahmen auf alle Gebilde bzw. Organisationen erweitern, die vor Entscheidungen stehen und eine Präferenzordnung bilden müssen. Für diese sind aber schlussendlich auch Menschen verantwortlich. Die Summe aller Einzelentscheidungen konstituiert damit auf einer höheren Ebene von Unternehmen – von Handwerksbetrieben über Automobilhersteller bis hin zu Finanzintermediären.
Dass Marktteilnehmer nicht immer rational handeln, wurde dabei nie bestritten. Lange hielt sich jedoch der Glaube, dass eher gering gebildete Menschen von dieser Maxime abweichen würden und daher keine systematischen bzw. strukturellen Abweichungen existieren könnten. Verhaltensfehler wurden Akteuren so zwar zugestanden, jedoch nur in Einzelfällen. Als Massenphänomen kam jene Irregularität nicht in Betracht. Träfe dies zu, wäre die Annahme des Homo oeconomicus als «durchschnittlichen» Investors natürlich gerechtfertigt.
Das aus der Verhaltensökonomie entstandene interdisziplinäre Forschungsfeld Behavioral Finance untersucht seit etlichen Jahren – unter Zuhilfenahme von Methoden und Erkenntnissen der Psychologie und Soziologie – das Geschehen auf Finanzmärkten und stellt dabei stets fest, dass Marktteilnehmer und Experten aufgrund von psychologischen, mentalen und neuronalen Einflüssen tatsächlich nur begrenzt rational handeln.
Im Folgenden werden sieben klassische Verhaltensfehler bei Anlageentscheidungen beschrieben und Lösungsansätze präsentiert:
1. Der Dispositionseffekt – Warum Verliereraktien zu lange gehalten werden
Häufig wird bei Akteuren beobachtet, dass Gewinne zu schnell realisiert, aber verlustreiche Investments zu lange gehalten werden. Wissenschaftliche Studien sind sich einig, dass innere Verlustaversion der Hauptgrund dafür ist. Das bedeutet, dass Schmerz im Kontext eines Verlusts stärker wahrgenommen wird als die Freude über einen gleichhohen Gewinn. Die Psychologen und Kognitionsforscher Daniel Kahneman und Amos Tversky illustrierten diesen Zusammenhang erstmals 1979 im Rahmen ihrer Prospekttheorie, für die Kahneman später mit dem Nobelpreis prämiert wurde.
Betrachtet man den grauen Punkt als Ausgangslage, befindet man sich im Gewinnbereich mit aktuell +1000 Punkten. Die Freude von 500 weiteren Punkten ist nun deutlich weniger stark als ihr gefühlter Verlust – gemessen am Verlauf der S-Kurve. Im Gewinnbereich handeln Akteure darum risikoavers und verkaufen erfolgreiche Aktien oft zu schnell, um ihren Gewinn zu realisieren.
Befindet man sich jedoch initial auf dem schwarzen Punkt im Verlustbereich, wird ein Gewinn von 500 Punkten weit positiver bewertet, als ein Verlust in derselben Höhe an Schmerz verursacht. Ergo handeln Akteure im Verlustbereich daher risikofreudiger. Für Finanzintermediäre wie Vermögensverwalter bedeutet dies beispielsweise, dass schlechte Aktien eher behalten werden, da der antizipierte Nutzen einer potenziellen Kursteigerung viel stärker ist als ein weiterer Verlust.
2. Der Ankereffekt – Wie Vorgaben Akteure verleiten
In Verhandlungen oder auf Märkten wird zu Beginn oft ein unrealistisch hoher Preis verlangt, von dem alle involvierten Akteure wissen, dass er zu hoch ist. Grund dafür ist der sogenannte Ankereffekt.
Das menschliche Gehirn versucht, Entscheidungen stets so einfach wie möglich zu treffen und bedient sich daher leicht verfügbaren Informationen. Heuristiken wie ein Anker kommen diesem Prozess entgegen. Anlageentscheidungen werden somit von Werten und Zahlen beeinflusst, die Marktteilnehmern in der Entscheidungsfindung begegnen. Wie sich herausgestellt hat, müssen diese nicht einmal einen direkten Bezug zur Entscheidungssituation aufweisen.
In einer Untersuchung von Kahneman und Tversky im Jahr 1974 sollten sechs Probanden schätzen, wie hoch der Anteil afrikanischer Länder an der UN ist. Bevor sie antworteten, drehten sie an einem Glücksrad. Dieses war manipuliert und zeigte entweder die Zahl 10 oder die Zahl 65. Wenn das Glücksrad bei der 10 stehen blieb, schätzten die Teilnehmer den Anteil afrikanischer Länder auf 25 Prozent – zeigte es die 65, lag die durchschnittliche Schätzung bei 45 Prozent. Das Resultat des Drehs am Glücksrad, obwohl für die eigene Einschätzung gänzlich irrelevant, fungierte so als Anker. Auch bei Anlageentscheidungen spielen somit häufig irrelevante Anker eine grosse Rolle und führen zu falschen Entscheidungen.
3. Der Heimateffekt – Warum zu viel im Heimatmarkt investiert wird
Akteure neigen dazu, überproportional in heimische Finanzprodukte zu investieren und dabei grundlegende Konzepte der Diversifikation zu missachten. So zeigen Studien aus den 1990er-Jahren, dass 79 Prozent aller deutschen Aktien auch deutschen Investoren gehörten. In den USA belief sich der Anteil damals sogar auf mehr als 90 Prozent. Neuere belastbare Studien aus dem Jahr 2015 zeigen, dass der Effekt mittlerweile geringer ausfällt, aber immer noch sehr stark ausgeprägt ist. Insbesondere seit der Finanzkrise 2007 achten Investoren offensichtlich verstärkt darauf, sich geografisch breiter zu diversifizieren.
Der Heimateffekt lässt sich gut damit erklären, dass Investoren einerseits Transaktionskosten sparen wollen und zudem das Gefühl haben, besonders viel über heimische Unternehmen zu wissen. Während die geringeren Transaktionskosten dabei eine Tatsache sind, wird der Einfluss des Gefühls «sich besser auszukennen» deutlich überbewertet. Dieses Home-Bias wird sehr stark von einem Kontrollbedürfnis und der eigenen Selbstüberschätzung getrieben.
Doch während hinsichtlich Kontrolle zumindest noch ein subjektiver Nutzen entstehen kann, ist die Selbstüberschätzung des eigenen Wissens – ob einzeln oder im Verbund einer Unternehmensentscheidung – sehr gefährlich.
4. Übersteigertes Selbstbewusstsein – Das Gefühl, besser zu sein als der Durchschnitt
Das Phänomen der Selbstüberschätzung tritt in allen Bereichen auf, denn Marktteilnehmer tendieren dazu, ihre Fähigkeiten im Vergleich zu anderen zu positiv wahrzunehmen. So zeigte der schwedische Psychologe Ola Svenson bereits 1981, dass sich insgesamt 40 Prozent der Autofahrer zu den besten 20 Prozent zählten.
Auch Investoren überschätzen häufig ihre Fähigkeiten im Börsenhandel und in der Titelauswahl. Die beiden Professoren für Finanzen Brad Barber und Terrance Odean zeigten 2001 in einer grossen Untersuchung von 35’000 Anlegern, dass diese viel zu oft kauften und verkauften. Hätten sie ihre Titel länger behalten und somit mehr auf den Markt gesetzt als auf ihre eigenen Fähigkeiten, hätten sie höhere Renditen erzielen können: Jene, die kaum handelten, generierten eine Rendite von 18,5 Prozent, während aktive Händler nur 11,4 Prozent Nettorendite realisieren konnten.
Auch zwischen den Geschlechtern gab es einen grossen Unterschied: Männer schnitten mit ihren Renditen 2,6 Prozentpunkte schlechter als der Markt ab, die Frauen jedoch nur 1,7 Prozentpunkte. Männer handelten deutlich mehr, weil sie dachten, den Markt besser einschätzen zu können als andere. Mit dem Handel stiegen allerdings auch die Transaktionskosten und umso geringer war die durchschnittliche Rendite.
5. Hyperbolisches Diskontieren – Darum ist Sparen so schwierig
Vor die Wahl gestellt, ob Akteure entweder sofort einen Gutschein im Wert von CHF 15.00 oder vier Wochen später CHF 20.00 in bar annehmen wollen, entscheidet sich eine überwiegende Mehrheit für den Gutschein. Ökonomisch betrachtet ergibt dies keinen Sinn, da letztere Variante einen höheren Wert darstellt. Doch macht der sofort mögliche Konsum glücklich.
Viele Marktteilnehmer sind einer starken Gegenwartspräferenz ausgeliefert. So weiss jeder um die Wichtigkeit zu sparen und um die der Altersvorsorge. Jedoch ist die Versuchung meist zu gross, nicht gerade heute damit anzufangen, wenn es sich auch auf morgen verschieben lässt. Der mathematische Begriff hierfür lautet hyperbolisches Diskontieren. Die Opportunitätskosten des heutigen Verzichts sind höher als die von morgen – und viel höher als jene irgendwann weit in der Zukunft. Problematisch dabei ist, dass sich morgen dasselbe Problem wieder stellt, sodass viele ihre Vorsorge über Jahre und Jahrzehnte hinausschieben. Verstärkt wird das Problem aktuell durch das Niedrigzinsumfeld, in dem Sparen an sich schon wenig Attraktivität zeigt.
Wie sich diesem Verdrängungsverhalten entgegenwirken lässt, zeigt eine experimentelle Untersuchung zu Altersvorsorgeplänen der US-amerikanischen Verhaltensökonomen Richard Thaler und Shlomo Benartzi aus dem Jahr 2004 auf Basis einer simplen Idee. Man bot Mitarbeitenden einer Firma an, heute einen Sparplan abzuschliessen, bei dem die erste Zahlung erst im nächsten Jahr fällig wird und auch nur dann, wenn eine Gehaltserhöhung eintritt. Durch die veränderten Einzahlungszeitpunkte erhöhten sich die Sparraten von unter fünf auf über neun Prozent. Der Versuchung, das Geld sofort zu konsumieren, wurde durch die positive Wirkung der Gehaltserhöhung und des automatischen Sparplans entgegengewirkt. Die Idee war so erfolgreich, dass sie mittlerweile in vielen amerikanischen Firmen angeboten wird.
6. Überreaktion auf mediale Repräsentation
Aktuell gibt es ca. 35’000 Aktienunternehmen weltweit – alleine 7’000 davon in den USA. Investoren sind von dieser Auswahl überfordert. Die Auswahl wird daher häufig vereinfacht, indem nur Unternehmen in Erwägung gezogen werden, die den Anlegern bereits bekannt sind. Die Titelkonzentration erfolgt daher automatisch bei jenen Unternehmen, die medial sehr präsent sind oder besonders auffällige Informationen liefern, da diese leichter zur Verfügung stehen.
So investieren Privatinvestoren häufig in Aktien, die durch ihre Berichterstattung in den Medien oder ihr besonders hohes Handelsvolumen Aufmerksamkeit auf sich lenken. Das kann jedoch zur Folge haben, dass diese Aktien aufgrund der unnatürlich hohen Nachfrage im Kursverlauf steigen und somit nicht mehr die erwartete Rendite liefern können, wie eine wissenschaftliche Studie von Richard Thaler und Werner De Bondt, einem der Begründer der Verhaltensökonomie, aus dem Jahre 1985 zeigt. Ebenso existieren Studien, die beweisen, dass Privatinvestoren stark auf bestimmte Signale wie Gewinnankündigungen reagieren. Hier geben sich Anleger leicht dem Irrtum hin, gut informiert zu sein oder in ein «heisses Eisen» zu investieren.
7. Mentale Konten – Trügerische Ordnung im Gehirn schaffen
Oft lässt sich beobachten, dass Menschen eher bereit sind, hohe Verzugszinsen für ihr Girokonto zu bezahlen, als Geld vom Sparkonto abzuheben, um ihren Dispo auszugleichen. Finanzwirtschaftlich macht dies natürlich keinen Sinn. Grund für dieses Verhalten sind sogenannte mentale Konten: Menschen wie Investoren legen ihre Vermögenswerte in unterschiedlichen mentalen Schubladen ab und behandeln diese komplett getrennt. Wenn ein Anleger in verschiedene Projekte investiert hat – Aktien, Sparpläne oder Fonds – so hat er nicht die Gesamtheit seiner Assets und deren Renditen und Risiken im Kopf, sondern führt für jedes Vorhaben ein gesondertes geistiges Konto. Der Effekt unterstützt auch den oben beschriebenen Dispositionseffekt, da Anleger ihre Assets gern in «Gewinner» und «Verlierer» unterteilen.
Bereits kleine Veränderungen in der Bezeichnung oder in der Organisation von Konten können dazu führen, dass mit dem enthaltenen Geld anders umgegangen wird. Bei der Bearbeitung und Lösung einzelner Teilbereiche besteht stets die Gefahr, dass dies zu einer insgesamt suboptimalen Lösung führt. Kundenberater als Finanzintermediäre sollten daher die Gesamtheit des Vermögens hervorheben, um eine optimale Lösung anzubieten.
Implikationen für Finanzintermediäre
Für Intermediäre und professionelle Marktteilnehmer stellt sich gleichermassen die Frage, wie man am besten mit einem solchen Fehlverhalten umgehen kann. Denn in Situationen, in welchen relevante Entscheidungen von menschlichen Individuen getroffen werden müssen, ist es stets schwierig, oben beschriebene Fehler zu vermeiden, da die ausgeführten Mechanismen tief in der menschlichen Psyche verankert sind und unterbewusst ablaufen.
Die Forschung zeigt jedoch, dass in Entscheidungssituationen bereits durch die Befolgung weniger Grundsätze und Denkanstösse viele der oben genannten Fehler vermieden oder vermindert werden können. Eine zentrale Rolle spielen entsprechende Leitlinien insbesondere für Intermediäre wie beispielsweise Vermögensverwalter. Diese sind den Risiken von Verhaltensverzerrungen doppelt ausgesetzt. Einerseits treffen sie im Auftrag ihrer Kunden oft stellvertretend Anlageentscheidungen und müssen darauf achten, nicht selbst Anlagefehler zu begehen. Andererseits müssen sie in der Kommunikation mit dem Kunden positives Erwartungsmanagement betreiben sowie gute Produkte und Lösungen anbieten, die verzerrtes Verhalten minimieren.
Der beste Zugang hierzu ist sicher die bewusste Aktivierung des reflektierten Denksystems. Die meisten Verhaltensfehler passieren, wenn aus dem Bauch entschieden wird, ohne bewusst nachzudenken. Bewusstes Nachdenken erfordert sehr viel Energie und Ressourcen. Das menschliche Gehirn versucht daher, diese aufwendigen Prozesse zu vermeiden, um schnell und effizient zu entscheiden. Intermediäre tun sich daher selbst keinen Gefallen, wenn sie schnelle Entscheidungen treffen oder akzeptieren. Sie sollten eher versuchen, sehr bewusst zu entscheiden und auch zu kommunizieren, welche Gründe für die Entscheidung ausschlaggebend waren.
Gute Vermögensverwalter haben den Mut auch schwierige und ungewohnte Entscheidungen zu treffen. Wie oben gezeigt, wird in geografischer Hinsicht zu wenig diversifiziert – meist aufgrund gefühlter Unsicherheit, welche die Entscheidung für eine effizientere Anlage verhindert. Oft kann es schon reichen, übersichtlichere Produkte wie Weltindexfonds zur Diversifizierung in Erwägung zu ziehen und in der Diskussion des Portfolios die Vorteile zu betonen. Ebenso sollte der Mut gefunden werden, Gewinneraktien auch mal laufen zu lassen und Verliereraktien zu verkaufen.
Ebenfalls von zentraler Bedeutung ist es, im Portfolio auch Finanzinstrumente zur Selbstkontrolle anzubieten bzw. zu verwenden. Nicht nur bindende Sparpläne sondern auch auch das bewusste Aufnehmen eines Kredits zum Kauf von Immobilien könnte eine Investitionsart darstellen. Dies erfordert regelmässige Rückzahlungen, also regelmässige Kapitalverwendung, und erscheint insbesondere in der aktuellen Niedrigzinsphase attraktiv.
Zuletzt ist es wichtig, Gründe, die für die Entscheidungsfindung als wichtig erachtet wurden, zu protokollieren, um die Entscheidungsfindung ex post auch beurteilen zu können. Wenn dies sowohl bei positiven als auch bei negativen Entwicklungen passiert, wird es leichter, auch negative Entwicklungen als natürlichen Teil von Anlagen zu akzeptieren und zu verarbeiten. Das dadurch geförderte Verständnis hilft bei darauffolgenden Entscheidungen, wieder objektiv und rational handeln zu können.
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